
Marian Klemm ist Geschäftsführer der Sustainable-Finance-Beratung Green Growth Futura und Vorstandsvorsitzender des Forums Nachhaltige Geldanlagen (FNG), der wichtigsten Branchenplattform für nachhaltige Geldanlagen im deutschsprachigen Raum. Nach vielen Jahren im klassischen Investmentgeschäft kennt er die Herausforderungen der ESG-Transformation aus beiden Welten. Im Interview spricht er über Standards vs. Marketing, die Grenzen heutiger Ratings – und wie Investor:innen zwischen wirklichem Impact und wohlklingenden Versprechen unterscheiden können.
EEAktuell: Herr Klemm, Sie haben einen Großteil Ihrer Karriere im klassischen Investmentbanking verbracht. Was hat Sie dazu bewegt, sich voll auf nachhaltige Finanzprodukte zu konzentrieren – und wie hat sich Ihr Blick auf den Kapitalmarkt dadurch verändert?
Marian Klemm: Dies klingt so, als würde ich nunmehr etwas komplett Neues machen. So empfinde ich das aber gar nicht. Vielmehr habe ich die bewusste Entscheidung getroffen, mein Know-how künftig mit einem höheren Mehrwert einzusetzen. Für diese “Midlife-Crisis” war das Aufwachsen meines Sohnes ebenso von Bedeutung wie der russische Überfall auf die Ukraine. Ich wollte nicht länger jede finanzielle Opportunität ergreifen, sondern verantwortungsvolle Investitionen tätigen. Tatsächlich ist Nachhaltigkeit die Basis jeglichen Portfoliomanagements, man muss dies den Akteuren nur wieder vor Augen führen und die mittlerweile negative Auslegung des Begriffs überwinden.
EEAktuell: Mit Green Growth Futura begleiten Sie Finanzdienstleister dabei, ESG-Strategien fundiert zu entwickeln. Wo liegt in der Praxis der größte Unterschied zwischen einem glaubwürdigen ESG-Ansatz und reinem Greenwashing?
Marian Klemm: Der Begriff „Greenwashing“ wird häufig vorschnell verwendet – oft dann, wenn individuelle Erwartungen an Nachhaltigkeit nicht erfüllt werden. Dabei ist Nachhaltigkeit kein eindeutig definierter Begriff, zu Recht darf man ihn unterschiedlich auslegen und verschiedene Schwerpunkte setzen. Ein Nachhaltigkeitsansatz wirkt vor allem dann glaubwürdig, wenn transparent gemacht wird, wie Nachhaltigkeit definiert und angewendet wird – und wenn diese Haltung auch dann Bestand hat, wenn der Wind sich dreht.
EEAktuell: Als Vorsitzender des FNG vertreten Sie auch das gleichnamige FNG-Siegel. Welche Rolle spielen solche Label aus Ihrer Sicht? Wie sollten Privatanleger:innen oder Vermögensberater:innen damit umgehen?
Marian Klemm: Das FNG-Siegel ist der SRI-Qualitätsstandard auf dem deutschsprachigen Markt. Das Siegel gewährleistet Mindeststandards und bietet bei der Suche nach glaubwürdigen, professionell verwalteten Nachhaltigkeits-Anlagen Orientierung. Wichtig bleibt aber auch bei Produkten mit Siegel, sich im Vorfeld mit den eigenen Präferenzen zu beschäftigen und sich ggf. individuell beraten zu lassen.
EEAktuell: Ein häufiges Missverständnis besteht in der Annahme, ESG sei gleich Impact. Wie unterscheiden Sie beides und wo verläuft die Grenze in der Produktlandschaft?
Marian Klemm: In der Tat ist das Gros der Greenwashing-Vorwürfe auf eben dieses Missverständnis zurückzuführen. ESG betrachtet die Dimensionen Umwelt (E), Soziales (S) und Unternehmensführung (G) auf Unternehmensebene. Dabei gibt es zwei Perspektiven: Aus der Outside-in- bzw. der Risiko-Perspektive wird darauf geschaut, wie diese Faktoren auf das Unternehmen wirken und seinen Erfolg beeinflussen. Bei der anderen Perspektive, der Inside-out bzw. Wirkungsperspektive steht hingegen die Frage im Mittelpunkt, welchen Einfluss das Unternehmen selbst in Bezug auf diese Dimensionen hat – positiv wie negativ.
Beim Impact Investing wiederum besteht das Ziel ganz klar darin, mit seinem Investment eine positive zusätzliche Wirkung bewusst zu erzielen – wobei auch hier noch einmal zwischen wirkungskompatibel und wirkungseffektiv differenziert wird. Ohne weiter ins Detail zu gehen: Eines ist klar – die Thematik ist komplex und alles andere als trivial.
Diese Komplexität trägt wesentlich dazu bei, dass die Abgrenzung von nachhaltigen Investmentstrategien in der heutigen Produktlandschaft oft unscharf ist. Jedes Investment – ob an den öffentlichen Märkten oder im Bereich der Private Markets – muss deshalb individuell betrachtet werden. So kann auch ein Aktienfonds durchaus Wirkung entfalten, etwa über die Ausübung der Stimmrechte, Engagement-Dialoge oder über integrierte Fördermechanismen wie Spendenkomponenten. Mikrofinanzfonds sind ein weiteres bewährtes Instrument. Und letztlich beginnt wirkungsorientiertes Investieren bereits bei der Wahl der Bank: Wer gezielt Anbieter wählt, die bestimmte kontroverse Geschäftsfelder ausschließen, trifft damit eine bewusste Entscheidung mit Wirkung.
EEAktuell: Viele Regelwerke wie SFDR, EU-Taxonomie oder ISSB schaffen derzeit Orientierung, führen aber auch zu viel Verwirrung. Wie sehen Sie die aktuelle Regulierungswelle – und was bedeutet sie für die Marktteilnehmer:innen?
Marian Klemm: Grundsätzlich ist die Regulierung zu begrüßen – nicht zuletzt, weil wir es mit einer Branche zu tun haben, die zu opportunistischem Verhalten neigt. Gleichzeitig schafft sie die notwendige Datenbasis, um Impact künftig messbar zu machen und ambitionierte Ziele ableiten zu können. Damit die Regulierung jedoch wie gewünscht wirkt und ihre Akzeptanz nicht verliert, braucht es noch mehr Harmonisierung und Kohärenz der Regelwerke – dann kehrt bei den Marktteilnehmer:innen vielleicht auch wieder der Enthusiasmus für Nachhaltigkeit zurück.
EEAktuell: Ein kritischer Punkt in der aktuellen ESG-Debatte sind “grüne Investments”, die plötzlich auch in Rüstung oder Atomenergie fließen. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein und wie sollten Investor:innen darauf reagieren?
Marian Klemm: Problematisch wird die Diskussion aus meiner Sicht immer dann, wenn komplexe Zusammenhänge stark vereinfacht dargestellt werden. In jüngerer Zeit ist jedoch wieder mehr Differenzierung und Sorgfalt in der Berichterstattung zu beobachten. Aktuell wird ja vornehmlich darüber gestritten, ob Investments in Rüstung oder Atomkraft in Fonds legitim sind, die gemäß Artikel 8 der Offenlegungsverordnung klassifiziert wurden. Dabei handelt es sich um Fonds, die bestimmte Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen und darüber berichten. Einige Marktteilnehmer:innen haben daraus das Label der ‚hellgrünen‘ Nachhaltigkeitsfonds abgeleitet – eine Vereinfachung, die in die Irre führt. Denn: Artikel-8-Fonds pauschal als Nachhaltigkeitsfonds zu bezeichnen, ist sachlich falsch.
Entscheidend für Anleger:innen ist Transparenz, sprich: die klare, verständliche Information darüber, ob ein Fonds in Rüstung oder Atomkraft investiert bzw. wie er sich strategisch dazu positioniert. Und zwar unabhängig von seiner SFDR-Klassifizierung.
Weder sollte man den Investor:innen vorschreiben, in was sie investieren dürfen, noch sollte man ihnen ein “X” für ein “U” vormachen. Deshalb plädieren wir beim FNG dafür, die nachvollziehbare Debatte um private Rüstungsinvestments nicht mit dem Begriff Nachhaltigkeit zu verknüpfen.
EEAktuell: Zum Abschluss: Wo sehen Sie aktuell die größten blinden Flecken in der ESG-Bewertung und wie können Anleger:innen diese gezielt in ihrer eigenen Due-Diligence-Praxis hinterfragen?
Marian Klemm: Nachhaltige Investments stehen häufig unter besonderer Beobachtung – und scheinen nur dann als sinnvoll zu gelten, wenn sie vollkommen perfekt und über jeden Zweifel erhaben sind. Doch dieses Streben nach einer unrealistischen Perfektion hemmt notwendige Entscheidungen. Statt immer nach der idealen Lösung zu suchen, sollten wir uns auf pragmatische Fortschritte konzentrieren – und uns jeweils für die bessere von zwei Alternativen entscheiden, anstatt auf die perfekte zu warten.
Fazit
Nachhaltige Geldanlage ist kein feststehendes Konzept, sondern ein Feld mit vielen Perspektiven und Spannungsfeldern. Wer ESG ernst nimmt, sollte sich mit den zugrunde liegenden Definitionen und Zielkonflikten auseinandersetzen. Es geht nicht darum, die eine perfekte Lösung zu finden, sondern fundierte Entscheidungen zwischen realen Alternativen zu treffen.
Greenwashing entsteht häufig dort, wo Nachhaltigkeit zu eng, pauschal oder missverständlich kommuniziert wird. Statt sich auf ESG-Ratings oder Labels allein zu verlassen, lohnt sich der Blick auf das, was ein Fonds oder Anbieter tatsächlich tut: Welche Haltung wird eingenommen? Wie transparent wird mit schwierigen Themen wie Rüstung oder Atomkraft umgegangen? Und wie konsequent wird die gewählte Strategie durchgezogen?
Auch die derzeitige Regulierungsflut bringt nicht automatisch mehr Klarheit. Sie schafft wichtige Rahmenbedingungen, bleibt aber an vielen Stellen uneinheitlich. Orientierung entsteht vor allem dort, wo Anbieter und Anleger:innen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – mit realistischen Erwartungen, kritischen Fragen und einer guten Portion Unabhängigkeit im Urteil.